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Nachricht vom 21.03.2016    

Pfarrer schafft im Herschbacher Flüchtlingsheim eine Klang-Oase

Peter Boucsein leitet Gitarrenkurs – Viele Instrumentenspenden und viele Schüler. Pfarrer ist im Lager inzwischen bekannt – Unterricht findet in Kellerzimmer statt – Musik ist die Sprache, die die Kinder erreicht.

Pfarrer Boucsein (helles Hemd, Brille) im Kreis der Flüchtlinge. Fotos: privat.

Herschbach. Der Plan klingt sympathisch, aber blauäugig. Der Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Rückeroth, Peter Boucsein, möchte einen Gitarrenkurs für die Flüchtlinge des Erstaufnahmelagers in Herschbach anbieten. Ohne, dass er dafür genügend Gitarren hat; für „Schüler“, die nach einigen Wochen ohnehin weg sind und oft weder englisch noch deutsch sprechen. Eine irrwitzige Idee, die im Himmel aber offenbar Anklang findet: Wenige Wochen später hat Boucsein fast 40 gespendete Gitarren und mehr als zwei Dutzend Schüler, die die Musik wie ein Schwamm aufsaugen.

Inzwischen kennen die Bewohner des Lagers den Mann mit den grünen Augen und dem Kofferraum voller Gitarren. Die Security winkt den Herrn Pfarrer lässig durch; im Heim selbst hat er seinen festen Raum: ein Kellerzimmer mit beigen Fliesen und Neonlicht. Nicht unbedingt heimelig, aber zweckdienlich.

Heute sind zuerst die Kinder an der Reihe. Rund ein Dutzend Jungen und Mädchen schnappen sich die Instrumente und klimpern sofort darauf herum. Der große Pfarrer wirkt in der wuseligen Schar hilflos: In der Sinfonie aus dahingeschrammelten Tönen und Kinderstimmen aus aller Herren Länder geht selbst sein kräftiger Bariton unter. Doch Boucsein bleibt gelassen: Mit Händen und Füßen zeigt er seinen Schützlingen, was sie tun sollen: „Ein Finger, eine Saite, hier herunterdrücken“, sagt er auf Deutsch. Er geht herum und schiebt die kleinen Hände behutsam zurecht. Und dann, nach einigen Minuten, schält sich aus der diffusen Klangwolke tatsächlich so etwas wie ein Rhythmus und ein sympathischer E-Dur-Akkord heraus. Die Musik scheint es gut mit dem Pfarrer zu meinen und wird für ihn zur Sprache, mit denen er die Kinder erreicht. Er improvisiert ein Liedchen in E, in dem er singend bis zwölf zählt. Die ausländischen Jungen und Mädchen trällern mit und wissen vielleicht noch gar nicht, dass sie eben die deutschen Zahlen gelernt haben. Dann versucht Pfarrer Boucsein das Gleiche mit den Jahreszeiten und stimmt ein Lied an, in das nach und nach alle Schüler mit einsteigen: „Es war eine Mutter/die hatte vier Kinder/den Frühling, den Sommer, den Herbst und den Winter.“ Das Eis ist geschmolzen, und im schmucklosen Raum wird’s plötzlich Frühling.

Für die Kinder ist die Stunde zu Ende. Jetzt trudeln zehn, elf junge Männer ein: sportliche Kerle, die trotzdem müde wirken. „Die Jungs haben Langeweile und lungern oft herum“, sagt Boucsein, während er einige der Gitarren nochmal durchstimmt. „Im Kurs haben sie die Möglichkeit, sich Selbstbestätigung abzuholen und nicht nur die Zeit totzuschlagen. Die freuen sich richtig auf die Stunde.“ Zum Beispiel Gazem und Arash, die Boucseins Worte zwar nicht verstehen, aber trotzdem an seinen Lippen hängen und jeden Griff auf der Gitarre sofort umsetzen wollen. Die Erwachsenen sind konzentrierter als die Kleinen, lernen die ersten Akkorde im Handumdrehen und spielen später sogar „Kumbaya, my Lord“, bei dem Arash seinen Nachbarn anstupst und ihn auffordert, mitzusingen. Eigentlich ein christliches Lied, das der Pfarrer da mit seinem größtenteils muslimischen Schülern singt. Aber er sieht das gelassen: „Hier in diesem Haus sind nur Menschen, die Gott liebt“, sagt er lächelnd und sieht seinen Dienst als Ausdruck christlicher Nächstenliebe an: „Es geht mir nicht darum, theologische Gespräche zu führen oder jemanden zu missionieren. Das würde schon an der Sprache scheitern. Wenn die Flüchtlinge merken, dass ein Christ ihnen etwas Gutes tut, ist das doch wunderbar. Was heute zählt, ist die Sprache der Musik und der Liebe.“



Die Müdigkeit der Flüchtlinge ist inzwischen verflogen. Einige blühen regelrecht auf und würzen die Akkorde, die ihnen der Pfarrer zeigt, mit feurigen arabischen Rhythmen. Und sogar Ali, ein Afghane, der seit drei Jahren in Deutschland lebt und inzwischen Mitarbeiter der Haus-Security ist, hat sich inzwischen eine Klampfe geschnappt und schlägt gut gelaunt in die Seiten. Musik verbindet eben – auch im kargen Keller eines Flüchtlingsheims.

Die Stunde ist zu Ende: Die Schüler ziehen einen Raum weiter und spielen Billard. Manchmal singt einer von ihnen Liedchen. Andere schauen sich die Gitarrengriffe an, die Pfarrer Boucsein an die Wand des Kellers gepinnt hat und mit denen sie die während der Woche üben können. Denn ein paar Gitarren bleiben dort und können jederzeit von den Bewohnern ausgeliehen werden. „Einige machen das tatsächlich und sind inzwischen schon fit. Andere tun sich eher schwer“, sagt Boucsein und weiß, dass sein Gitarrenkurs wahrscheinlich keine Musik-Virtuosen hervorbringen wird. „Was zählt, ist die Freude an der Sache. Und dass ich mich mit meinen begrenzten Fähigkeiten vor Ort einsetze.“

Was das angeht, ist der Herr Pfarrer eben doch ein Realist: „Ich persönlich kann nichts am Verhalten irgendwelcher seltsamer Politiker in Syrien ändern. Das wäre ja blauäugig. Aber ich kann vielleicht bei uns für ein kleines Stück Frieden sorgen.“ (bon)


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