Memorabilia IX: Ein Trio terrorisiert den Westerwald
Von Niklas Hövelmann
KOLUMNE | In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts treibt eine dreiköpfige Bande im Westerwald ihr Unwesen. Zusammen terrorisieren sie Land und Leute, schrecken weder vor Raub noch vor Folter zurück. Über mehrere Jahre zieht sich ihre kriminelle Karriere, ehe sie 1780 in Neustadt an der Wied ein spektakuläres Ende findet.
Neustadt/Wied. In der letzten Episode der Memorabilia stand der zweijährige Steinerother Schulstreik im Fokus. Über zwei Jahre lieferte sich hierbei die preußische Verwaltung einen papierernen Kleinkrieg mit Steinerother Eltern, die so gar keine Lust hatten, sich dem für die Landbevölkerung so völlig unpassenden neuen Schulkonzept zu fügen (Wir berichteten).
Heute gibt es dagegen wieder etwas mehr Action. Und zwar geht es dieses Mal ins 18. Jahrhundert. Hier kündigte sich ein Banditenwesen an, wie man es eigentlich erst einhundert Jahre später im amerikanischen Westen erwartet hätte. Aber tatsächlich waren wir hierzulande schon wesentlich früher dran mit Räuberpistolen. Auch wenn sie inzwischen großteils in Vergessenheit geraten sind, sind die Geschichten um Schufte wie Mathias "der Fetzter" Weber oder Johannes "Schinderhannes" Bückler nicht weniger filmreif als die Erzählungen von Billy the Kid oder Butch Cassidy.
Heute im Zentrum steht ein kriminelles Trumvirat, das eher seine Dreistig- und Leichtigkeit als seine Untaten bemerkenswert macht. Die Rede ist von Fuß, Nöll und Vring. Memorabilia IX über gestohlene Schinken, neunmalkluge Banditen und einen überraschend starken Scharfrichter.
Mäßige Quellenbasis
Historisch war der Westerwald immer eine sehr arme Region, in der die Menschen nicht selten von der Hand in den Mund lebten. Es gab viel Tagelöhnerei und entsprechend auch viele Bettler, die zumindest teilweise von Almosen leben mussten. Aus dieser Klasse entstammten auch die beiden Jugendfreunde Apollinar, genannt Nöll, und Fuß, dessen bürgerlicher Name leider im Laufe der Zeit verloren gegangen ist. Weil bis heute keine offiziellen Akten überliefert sind, ist auch nicht mehr einwandfrei festzustellen, ob beide etwa in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zueinander standen. Genauso fraglich ist es, wann sie geboren wurden und wie ihr Lebensweg im Detail aussah. Für diesen Artikel bilden sowohl Matthias Reufels Chronik "Neustadt" aus dem Jahr 1908 als auch der Aufsatz "Fuß, Nöll und Vring – Eine Räuberbande durchstreift den Westerwald" aus dem Heimatjahrbuch des Kreises Altenkirchen von 2009 die Basis. Letzteres wurde freundlicherweise von der Kreisvolkshochschule Altenkirchen zur Verfügung gestellt. An einigen Stellen gibt es leichte Ungereimtheiten, was der unsicheren Überlieferung geschuldet sein wird.
Erste Vorzeichen auf die spätere Karriere
Jedenfalls sollen Nöll und Fuß um das Jahr 1725 geboren worden sein. Wie realistisch das ist, wenn man bedenkt, dass ihnen im Jahr 1780 – also mit 55 Jahren - der Prozess gemacht worden sein soll, sei mal dahingestellt. Aufgewachsen sind sie in der ländlichen Unterschicht, fernab von Bildung und hochkulturellem Umgang. Bereits früh wurden sie auf "Sammel-Termin" hinausgeschickt. Dabei zogen sie bettelnd um die Häuser, um so die Familienkassen aufzubessern. Mit der Zeit wurden sie ein unzertrennliches Duo, unternahmen alles gemeinsam. Leider ergänzten sie sich wohl weniger im Guten als vielmehr im Schlechten. So sollen sie irgendwann angefangen haben, Tiere zu quälen – vollkommen grundlos. Katzen und Hunde sollen gleich wie Ziegen und Schafe und sogar Vögel mit Steinwürfen geschädigt worden sein.
Start in die Karriere
Auf ihren Betteltouren kamen sie häufig nach Neustadt an der Wied, ihre direkte, dörfliche Heimat haben sie wohl aus Scham oder dank ihres schlechten Rufs eher gemieden. So zogen die Jahre ins Land. Tagelöhnerei und Bettelei, das war das tägliche Brot der beiden besten Freunde. Irgendwann erkannten sie einen erträglicheren Geschäftszweig für sich: Sie begannen zu stehlen. Wie es damals üblich war, stahlen sie eher größere Lebensmittel und Kleidung von Privatpersonen als Geld oder Wertgegenstände aus Banken oder anderen Institutionen. Dabei waren sie mal mehr, mal weniger erfolgreich. Definitiv wurden sie einige Male erwischt und bekamen Strafen: Mal gab es Prügel mit dem Stock, mal ging es an den Pranger. Auch kam es wohl teilweise zu plumpen Verwarnungen oder gar dazu, dass sie das Diebesgut öffentlich durch den Amtsort Altenwied tragen mussten.
Viel genutzt hat das alles nicht. Auch ihre Ehefrauen, die sie sich beide schon relativ jung anlachten, übten keinen guten Einfluss auf sie aus. Sie tranken, sie spielten, sie schlugen sich, sie logen, sie betrogen und sie stahlen.
Neues Personal, neue Wege
Bald war das Duo im gesamten Umkreis gefürchtet. Die Bettelei hatten sie im Erwachsenenalter schnell aufgegeben. Ihr Haupteinkommen erwirtschafteten sie zwar wohl noch immer aus der Tasche anderer Leute, aber sie machten sich nun nicht mehr die Mühe, darum gnädigst zu bitten.
Aus dem Kölner Raum stieß irgendwann ein dritter Mann zu den beiden. Sein Name war Severin, genannt wurde er Vring. Seinen Unterhalt hatte er bis dato als Quacksalber verdient. Charakterlich standen sich die drei in nichts nach. Dafür eröffnete die erhöhte Größe der Gruppe ihnen jetzt ein neues Betätigungsfeld: Einbrüche. Während einer Schmiere stand, schlichen sich die anderen in die Gebäude und nahmen mit, was nicht niet- und nagelfest war. Und dabei wurden sie mit der Zeit immer dreister. Nicht nur konzentrierten sie ihre meist nächtlichen Unternehmungen just auf die Gegenden, in denen sie in ihrer Jugend reichlich mit Almosen beschenkt worden waren, auch ihre Vorgehensweise war schon einzigartig unverschämt.
Ein dreister Einbruch
Folgende Geschichte wird erzählt: In Ehrenfeld lebte eine Bauernfamilie namens Rosenstein. Unter dem Vorwand, sich seine Pfeife am Herdfeuer der Familie entzünden zu wollen, ließ Frau Rosenfeld Nöll ins Haus kommen. Der wiederum gab sich als Metzgergeselle aus, fragte nach einem fetten Kalb für seinen angeblichen Arbeitgeber. Die nichts ahnende Hausfrau ließ sich auf das Gespräch ein und erzählte, dass sie gerade erst geschlachtet hätten und eine ganze Fuhre Räucherfleisch im Kamin hänge.
Ab hier wird die Geschichte nun extrem unglaubwürdig, ich erzähle sie aber trotzdem – auch weil sie wirklich lustig ist – genau so nach, wie sie uns Reufels hinterlassen hat.
Weiter erzählte die Dame des Hauses demnach, dass sie alleine auf dem Hof sei, weil die anderen alle nach Linz aufgebrochen seien, um auf dem Markt Handel zu treiben. Sie sei alleine zurückgeblieben und fürchte sich nun vor Räubern und Einbrechern. "Wir sind hier alle so bange vor den Spitzbuben, besonders vor dem Kölnischen Nöll aus dem Heidewinkel. Wenn uns nur die Schinken nicht gestohlen werden", soll sie gesagt haben.
Nöll, immer in seiner Rolle bleibend, soll daraufhin wüst auf das Diebesgesindel geschimpft, aber der Frau auch gut zugeredet haben. Die Gefahr von Räubern sei viel niedriger, als es den Anschein habe. Es seien viele Gerüchte und Lügen im Umlauf, mit denen nur Land und Leute verrückt gemacht würden. Auch dieser Nöll sei nur ein Schreckgespenst. So sei ein Großteil der Geschichten um ihn frei erfunden. Er verabschiedete sich freundlich und ließ die weiterhin nichts ahnende Frau guten Mutes zurück.
Abends kehrte er zurück zu dem Haus, das er gerade so schön ausgekundschaftet hatte. Er schlich sich mit einer Leiter durch die nur angelehnte Tür, ging zielsicher zum Kamin und schnappte sich seelenruhig und lautlos das gesamte Räucherfleisch – inklusive des Schinkens. Nachdem er alles verstaut hatte und bereit zum Abmarsch war, klopfte er ans Fenster und rief der dadurch aufgeschreckten Dame zu: "Der Nöll hat die Schinken schon. Adieu!"
Es eskaliert
War es bis dahin noch relativ locker und tragikomisch zugegangen, veränderte sich das Vorgehen der Bande mit der Zeit weiter ins Radikale. Schließlich hatten sie auch bis hierhin keine besonderen Konsequenzen zu spüren gehabt und konnten sich daher relativ unbesiegbar fühlen. Jetzt begannen sie, ihre Opfer härter anzufassen: Sie beraubten sie und schreckten dabei auch nicht vor ernsthafter Gewalt zurück. Dennoch gab es weiterhin keine Reaktion seitens der Behörden. So kam es dann, dass sich die drei anschickten, einen richtigen Coup zu landen. Was aber in der Theorie nach "Haus des Geldes" klang, sollte sich in der Praxis eher als "Upps! – Die Pannenshow" herausstellen.
Money Heisterkamp
Damals war es üblich, dass die zehnprozentige Kopfsteuer in jedem Amt von einem jährlich wechselnden Bürger einzutreiben war. In dem nämlichen Jahr war dies Simon Rosenstein aus Ehrenfeld. Ob eine enge verwandtschaftliche Verbindung zur Bauersfamilie Rosenstein aus demselben Ort bestand, ist nicht klar. Jedenfalls war dieser Simon Rosenstein beauftragt, die Kopfsteuer einzutreiben. Und genau das wussten auch Nöll, Fuß und Vring. Die drei fassten den Plan, Rosenstein zu Hause zu überfallen und zur Herausgabe der kompletten Steuergelder zu erpressen.
Dumm nur, dass Rosenstein das Geld schon längst in der Burg Altenwied abgeliefert hatte. Was ja eigentlich auch zu erwarten war, wenn man bedenkt, dass seine Heimatstadt permanent von einer Einbrecherbande geplagt wurde.
Nöll, Fuß und Vring drangen also des Nachts in das Haus von Simon Rosenstein ein. Den Beteuerungen des Mannes und seiner Ehefrau, das Geld nicht im Haus zu haben, schenkten sie keinen Glauben. Stattdessen folterten sie das Ehepaar. Dabei stellten sie sich wirklich spektakulär dämlich an: Während die Gefolterten die Tortur noch relativ leise, ohne laute Geräusche, ertrugen, schrien die drei Einbrecher derart laut auf ihre Opfer ein, dass die im Nebenzimmer schlafende Magd geweckt wurde. Sie kletterte aus dem Fenster und schlug im Ort Alarm. Die halbe Ortschaft veranstaltete daraufhin eine regelrechte Hetzjagd auf die drei Eindringlinge. Mit Säbeln und Flinten bewaffnet, hetzten sie ihre Hunde auf das Trio, das sich nur mit größter Not in eine verruchte Schenke retten konnte.
Der Untergang
Aber es war der Anfang vom Ende: Die Behörden setzten nun ein Kopfgeld auf die drei aus. Auf der Flucht wurden sie von ihrem Bekannten Wilhelm für eben jenes Kopfgeld verraten. Der gebürtige Nassauer hatte ihnen versprochen, sie für ein kleines Entgelt in seine Heimat zu lotsen, wo ihnen keine Verfolgung drohte. Tatsächlich lockte er sie aber in eine Herbergskneipe bei Altenkirchen, wo sie von der auf der Lauer liegenden Polizei in Gewahrsam genommen wurden. Sie wurden auf die Burg Altenwied gebracht, wo ihnen später der Prozess gemacht werden sollte.
Fuß, der sich mit der Situation am wenigsten arrangieren konnte, gelang ein Ausbruch aus der Burg. Ob seiner roten Haare und seiner bulligen Erscheinung war er aber rasch wieder gefasst worden und wurde von da an in seiner Zelle festgekettet.
Es folgte bald der absehbare, endgültige Urteilsspruch: Tod durch den Strick – für alle drei. Noch immer konnten sich die drei mit ihrem Schicksal nicht abfinden, also versuchten sie es mit einer List:
Als es im Herbst Zeit für die Henkersmahlzeit war, die jedem zum Tode Verurteilten gewährt wurde, wünschten sich Noll, Fuß und Vring in der Hoffnung, so ihre Hinrichtung noch um gut ein Jahr aufschieben zu können, Kirschen. Doch die Leute in der Region hatten genug von den dreien. Ein Eilbote wurde nach Köln geschickt. Auf dem dortigen Markt besorgte er eingemachte Kirschen, und so hatten die schockierten Banditen innerhalb weniger Tage ihre Henkersmahlzeit auf dem Tisch stehen.
So kam der Tag der Hinrichtung. Alles lief nach altbekanntem Brauch ab. Nacheinander sollten alle drei den Tod durch den Strang finden. Zwei wurden zügig vollzogen. Aber Fuß konnte sich noch immer nicht mit der Situation arrangieren. Mit einem verzweifelten Sprung wollte er sich vom Galgen in die Arme seiner Frau retten, was nach damaligem Recht aus irgendeinem Grund eine Art Freispruch durch Gottesurteil bedeutet hätte. Also nahm er Schwung und sprang. Aber er hatte die Rechnung ohne den Henker gemacht, der den bulligen Fuß einfach auffing und dann auch ihn schlussendlich dem Sensenmann übergab. (NK)
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