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Nachricht vom 02.07.2022    

Buchtipp: „Schreie auf Papier“ von Raymond Wolff, Martina und Hans-Dieter Graf und Hans Berkessel

Von Helmi Tischler-Venter

„Schreie auf Papier“ ist der sehr zutreffende Titel für die Briefe von Heinrich und Selma Wolff aus Mainz an ihre Söhne Herbert und Helmut in New York aus den Jahren 1937 bis 1941. Das Buch ist Band 4 der Beiträge zur Geschichte der Juden in Rheinland-Pfalz, Veröffentlichung des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz.

Buchtitel

Dierdorf/Oppenheim. Die veröffentlichten Briefe der Familie Wolff geben einen sehr persönlichen und emotionalen Eindruck von den Lebensumständen der Juden in unter den Nationalsozialisten. Für Raymond Wolff waren die Briefe seiner Großeltern, die er nie persönlich kennenlernen konnte, ein schweres Erbe. Er starb 2021 in Berlin.

Heinrich und Selma Wolff, geborene Hecht schrieben die Briefe an ihre Söhne Herbert (geboren 1914) und Helmut (geboren 1915). Herbert hatte nach dem Abitur 1932 bereits ein Semester Medizin in Frankfurt und eins in Gießen studiert, als er auf Anordnung der Nationalsozialisten die Universität verlassen musste. Er erledigte dann die Buchführung in der Weinhandlung seines Vaters und absolvierte eine kaufmännische Ausbildung in Mainz. Am 20. Juni 1938 emigrierte er über London von Southampton aus auf dem Schiff „Aquitania“ in die USA.

Helmut Wolff besuchte die Realschule und absolvierte eine kaufmännische Lehre in Mainz, bevor er mit erst 21 Jahren in die USA emigrierte. Dort wohnte er erst bei seiner Cousine Elsie in der New Yorker Bronx. Seit Sommer 1938 wohnten die beiden Brüder im Stadtteil Queens.

Aus den Briefen kann man lesen, dass Heinrich und Selma Wolff liebende, fürsorgliche Eltern waren, die außer zu den Söhnen auch engen Kontakt zur übrigen Verwandtschaft, zur Nachbarschaft und zur jüdischen Gemeinde hielten. 1937 schien die Welt noch in Ordnung. Wolffs hatten ihr Haus in Nackenheim verkauft und waren ins anonymere Mainz gezogen. Trotzdem spürten sie berufliche und wirtschaftliche Diskriminierungen immer deutlicher, daher schickten sie ihren jüngeren Sohn Helmut im April in die USA und begannen mit Vorbereitungen für die Auswanderung ihres Sohnes Herbert.

Zunächst freuten sich die Eltern, dass Helmut gesund und in Stellung war. Herbert korrespondierte mit seinem Bruder wegen der Bürgschaft und der Einreisepapiere.

1938 emigrierte nach den Verwandten Berta und Simon Hecht auch Herbert Wolff. Seine Eltern lebten nun allein in Mainz, und ihre Sehnsucht nach den Söhnen wurde immer stärker. Zudem sorgten sie sich, weil immer nur Herbert schrieb. Der hatte ihnen nicht mitgeteilt, dass Helmut mit rheumatischem Fieber im Krankenhaus lag. Die Eltern andererseits schrieben nichts vom Novemberpogrom in Mainz. Klartext kam nur von den bereits nach Tyler ausgewanderten Verwandten.

Herbert und Helmut schrieben wöchentlich nach Hause, und die Eltern antworteten immer postwendend. So kam ein intensiver Postverkehr zustande, oftmals trafen zwei Briefe gleichzeitig ein. Am 9. Juli antworteten Heinrich und Selma Wolff bereits auf Schreiben Nummer 64, in der Hoffnung, dass ihre Schreiben Nummer 68 und 69 sowie ein weißes Hemd bereits angekommen seien. Vater und Mutter schrieben immer beide einige Zeilen, sorgten sich um das Wohlergehen ihrer Kinder und sprachen ihnen immer Mut zu, insbesondere, als sie von Helmuts Krankheit erfuhren. „Hauptsache gesund“ war immer ihre Einstellung. Ihr Hund Moppi hatte immer wieder Geschwüre. Wolffs erkundigten sich, ob die Söhne die Synagoge besuchten und die jüdischen Feste rechtmäßig feierten. Außerdem berichteten sie von der Verwandtschaft und dem Stand ihres Auswanderungsantrags.

Der Antrag hatte in Stuttgart eine so hohe Nummer erhalten, dass dessen Bearbeitung Jahre dauern sollte. „L. Vater u. ich haben so Sehnsucht nach Euch l. Kinder. Wir sprechen u. denken den ganzen Tag nur an Euch. Unser Heimweh ist groß u. könnt ihr l. Kinder doch mal bei Henry nachfragen, ob er uns nicht die Bürgschaft geben will, denn es dauert dann doch noch immer lange, bis wir zu Euch kommen können, aber es wäre dann doch mal der Anfang gemacht.“



Parallel zum Druck der Nazis auf die Juden nahmen die Bitten um Hilfe bei der Auswanderung im Jahr 1939 zu. Jede Variante, die von irgendeiner Seite berichtet wurde, sollte versucht werden. Gleichzeitig wollten Heinrich und Selma ihre Söhne nicht zu sehr unter Druck setzen und beteuern immer wieder, vorerst abwarten zu wollen. Vorsichtshalber schrieben sie nichts über den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Nur die Briefe ihrer Söhne waren jetzt noch ihr wichtiger Lebensinhalt. Immer mehr Bekannte wanderten aus. „Hoffentlich kommt der Tag auch, wo wir wieder zusammen sind.“

Der Tod des treuen Hundes war ein emotionaler Schlag für Wolffs. Es blieb die Hoffnung: „Das Halsband, das Du l. Helmut, Moppi zum Geschenk machtest, bringen wir, wenn wir zu Euch kommen, als ewiges Andenken mit u. wenn wir dann wieder beisammen sind, halten wir wieder einen Moppi.“ Ihr Besitz in Deutschland schwand, aber voller Vorfreude lernten die Eltern jede Woche zwei Stunden Englisch.

Kriegsbedingt waren im Jahr 1940 Briefe oft monatelang unterwegs, was für Selma und Heinrich eine Tortur war. Von den Verwandten in Berlin kam auch keine Post mehr. Man konnte nur besorgt und resigniert abwarten. Viele auswanderungswillige Juden waren im Besitz ihres Visums, erhielten aber keine Passage. Daher wurden die Söhne in den USA gebeten, jetzt schon mit den Schifffahrtslinien in Verbindung zu treten, obwohl das Aufgerufenwerden in Stuttgart ab Sommer immer langsamer ging.

1941 mussten die alten Wolffs ganz aus eigener Kraft in eine Einzimmerwohnung in Mainz umziehen. Ihre Bürgschaften waren nicht mehr gültig und erst recht keine Passagen erhältlich. Das von den Söhnen überwiesene Geld war nicht an die Reederei weitergeleitet worden, nun gab es keine Schiffskarten mehr. Nach der großen Enttäuschung war die Freude umso größer, als es den Söhnen gelungen war, eine Schiffspassage für die Eltern zu besorgen. Diese sollten am 11. Juni ihr Visum erhalten. Aber genau an diesem Nachmittag wurde das Stuttgarter Konsulat auf Anordnung der amerikanischen Regierung geschlossen. Ein weiterer Fluchtversuch über Lissabon nach Kuba wurde durch Heinrich Himmlers Ausreiseverbots-Erlass für Juden zunichte.

Durch den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg gab es keinen geregelten Briefwechsel mit den USA mehr. Nichts von ihren Kindern zu hören, machte Selma Wolff „seelenkrank“. Die Dringlichkeit der Bitten, schnellstens für ihr Fortkommen zu sorgen, nahm zu. Der Brief von Heinrich und Selma Wolff vom 22. November 1941 ist ihr letzter, der Brief der Söhne vom 29. November ging unzustellbar an die Absender zurück.

Herbert Wolff schrieb am 30. Juli 1945 an seinen Bruder Helmut in New York, dass er als Soldat der United States Army tags zuvor Nackenheim besucht hatte: „…ich wurde empfangen wie ein König“. Alle, die ihn kannten, wollten seine Hände schütteln. Von Fräulein Trito, einer guten Bekannten der Eltern, erfuhr er, dass diese kurz nach Weihnachten 1941 deportiert worden waren.

Das umfangreiche, 352 Seiten umfassende, gebundene Buch mit zahlreichen Fotografien ist wegen der Intimität der Briefe eine packende Lektüre und beredtes Zeitzeugnis. Erschienen ist es im Nünnerich-Asmus Verlag, ISBN 978-3-96176-139-5. (htv)



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