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Nachricht vom 30.03.2019    

„Armutsrundreise“ durch einen reichen Westerwaldkreis

Gibt es auch bei uns im Westerwald Armut? Und mit welchen Problemen müssen Arme und von Armut bedrohte Menschen in der Region leben? Eine Gruppe von sozial erfahrenen Personen war einen ganzen Tag lang auf Einladung des Forums Soziale Gerechtigkeit unterwegs „Auf den Spuren der Armut im Westerwald“. Was sie dabei erfuhren, ist wenig ermutigend: fehlende Wohnungen, unbezahlbare Mobilität sowie eine oft mangelhafte Ernährung und unzureichende medizinische Versorgung war bei allen fünf Stationen der Tour ein drängendes Thema.

Im Sozialkaufhaus Montabaur. Fotos: privat

Westerwaldkreis. Zuvor hatte das Forum schon zu mehreren Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen rund um das Thema Armut und gesellschaftliche Ungleichheit eingeladen. Mit dem Format „Sozialrundreise“ geht möglichst jährlich eine Kleingruppe mit Aktiven aus unterschiedlichen Bereichen des sozialen Lebens auf Entdeckungstour durch den Westerwaldkreis, diesmal zum Thema Armut. Hoffnung macht dabei die Aussage der aus dem Westerwald kommenden rheinland-pfälzischen Sozialministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler, dass das Land bei der Armutsbekämpfung nicht nachlassen wird und nach geeigneten regionalen Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung sucht. Eine davon ist sicher die jährliche „Sozialrundreise“ des Forums, zu der deren Sprecher Uli Schmidt (Horbach) eingeladen hatte. Mit dabei war auch die Landtagsabgeordnete Dr. Tanja Machalet. Die AWO-Gemeindepsychiatrie mit Sitz in Bad Marienberg hatte einen Kleinbus für die Exkursion zur Verfügung gestellt.

Erste Station war die Allgemeine Lebens- und Sozialberatung beim Caritasverband Westerwald-Rhein-Lahn. Sie ist Anlaufstelle für viele Menschen in Not- und Konfliktsituationen. „Viele unserer immer zahlreicheren Ratsuchenden müssen aus Scham zunächst eine Hemmschwelle überwinden um überhaupt zu uns zu kommen“, meinte Beraterin Annette Menges-Schmidt. Oft gebe es Anlässe wie das Abstellen des Stromes, der zu einer akuten Notlage führe. Die Caritasmitarbeiterin wies auf das Problem hin, bezahlbaren Wohnraum zu finden und die notwendige Mobilität sicherzustellen. Auch die Ersatzbeschaffung von meist zu teuren Haushaltsgeräten sei oft mehr als schwierig.

Bei letzterem kann das Sozialkaufhaus in Montabaur oft helfen und stellt komplette Erstausstattungen im Paket zur Verfügung. Die Einrichtung hat gleich das Thema Armut doppelt im Blick: zunächst durch die insgesamt 35 meist arbeitsmarkfernen Teilnehmer, die bei allen anfallenden Arbeiten einbezogen und so für eine mögliche Vermittlung qualifiziert und bei allen Problemstellungen unterstützt werden. Und auf der anderen Seite die vielen bedürftigen Kunden, denen oft das absolut Lebensnotwendige von Kleidung bis zur Wohnungsausstattung fehlt. „Immer mehr wird unser Kaufhaus auch zum Treffpunkt für viele Leute vom Flüchtling bis zum Rentner“, so Leiterin Andrea Leineweber. Sie dankte allen Kleidungs- und Materialspendern. Ein Ärgernis sei allein, wenn Unbekannte gänzlich unbrauchbare „Spenden“ abends nach Geschäftsschluss vor dem Eingang abladen, welche kostenpflichtig seitens des Kaufhauses entsorgt werden müssen. Schwierig sei für die Teilnehmenden auch in der Kreisstadt das Finden bezahlbaren Wohnraumes und die Mobilität. Viele seien auch Kunden der Tafel Westerwald an den verschiedenen Standorten im ganzen Kreis.

Die Westerburger Ausgabestelle der Tafel Westerwald war der nächste Gastgeber. Dort wartete die Tafel-Koordinatorin Petra Strunk vom Diakonischen Werk Westerwald mit Kolleginnen vom Bedarfscoaching und der Schuldnerberatungsstelle auf die Gäste. Insgesamt erhalten bei der Tafel im Kreis etwa 2.000 Menschen, davon 760 Kinder, gespendete Lebensmittel, damit mehr Geld für andere notwendige Dinge bleibt. „Dadurch wird deren Armut nicht verringert, sondern nur etwas gelindert“, so Strunk.

Insbesondere sei feststellbar, dass sehr viele Tafelkunden einen Teil ihrer Miete noch aus dem Regelsatz finanzieren müssen, der für das alltägliche Leben zur Verfügung stehen soll – dabei könne nur massive Armut entstehen. Die Mitarbeiterinnen des Bedarfsgemeinschaftscoachings für ALG II- Empfänger wiesen eindringlich auf die bei ihren Hausbesuchen sehr oft feststellbaren katastrophalen Wohnbedingungen hin.



Zudem bekämen Viele in den Jobcentern nicht das, was Ihnen eigentlich zustehe: im Rahmen der ALG-II Beratung erhalten Menschen Hilfe bei der Klärung ihrer Ansprüche und beim Einlegen von Rechtsmittel, so in vier Monaten 180 Widersprüche von 60 Bedarfsgemeinschaften. Angesprochen wurde die Forderung nach einem für alle finanzierbaren ÖPNV, beispielsweise um bei akuten Schmerzen zum Arzt zu kommen oder Fachärzte aufsuchen zu können. Von einer Tafelmitarbeiterin wurde festgestellt: „Man sieht vielen der zu uns kommenden Menschen an, dass sie krank sind!“

Der Zusammenhang von Armut und Krankheit war dann ein wichtiges Thema im Fachkrankenhaus in Vielbach. „In unserer Klinik werden 70 Männer behandelt, die suchtkrank und wohnungslos sind und die alle eines gemeinsam haben: Sie sind arm!“ So begrüßte Einrichtungsleiter Joachim Jösch die Delegation. Die Sucht werde oft als Ausweg gesehen um das Leben überhaupt ertragen zu können. Beschäftigungsmöglichkeiten in Schreinerei, Schlosserei und Gärtnerei führten in Verbindung mit der naturgestützten Therapie des Hauses zu erstaunlichen Erfolgen. Jedoch seien diese oft wegen einer fehlenden bezahlbaren Wohnung nach der Entlassung gefährdet. Aber man garantiere, dass niemand zurück auf die Straße entlassen werde.

Als ärztlicher Leiter des bundesweiten einzigartigen Fachkrankenhauses unterstrich Horst Kurzer den Zusammenhang von Armut und Gesundheit: „Die meisten unserer Patienten haben vor der Aufnahme in unser Haus seit Jahren keinen Arzt mehr gesehen“. Nach wie vor gelte der Grundsatz, dass man als armer Mensch früher sterben müsse. Oft müsse man die Erfahrung machen, dass kaum ein Arzt wohnungslose und suchtkranke Patienten im Sprechzimmer haben wolle. Die Gesundheit sei nicht nur von Armut, sondern auch vom Bildungsstand abhängig.

Ein hoher Krankenstand war dann auch ein Thema beim „Projekt Arbeit und Lernen“ (P.A.u.L.) e.V. in Ransbach-Baumbach. Von Projektteilnehmern und Betreuungskräften wurde berichtet, dass viele der genutzten Wohnungen „gesundheitsschädliche Schimmelbuden“ seien. „Eine bessere Wohnung können wir uns aber nicht leisten, da dann das knappe Geld trotz Besuchs der Tafel für andere lebensnotwendige Dinge fehlt“, klagte ein chronisch kranker Teilnehmer. Ein Anderer meinte, er würde gerne mal ins Kino fahren, aber es gebe dafür abends kein ÖPNV-Angebot und wenn doch, könne er nicht Bus und Kino bezahlen. Ein Dritter lobte, dass man bei „Paul“ in der Gruppe zusammen kochen könne und sich dadurch sein Gesundheitszustand verbessert habe. „Bei unseren Leuten gilt: Entwicklung braucht Zeit!“, stellte Paul-Geschäftsführer Stefan Wolfram fest. Da sei es hilfreich, dass das Jobcenter in begründeten Fällen auch einzelne Maßnahmen verlängere. So sei es möglich, für viele der im Projekt Tätigen meist vorher langzeitarbeitslosen Menschen Perspektiven zu erarbeiten.

Nach der Exkursion wurde festgestellt, dass die Quote der armen oder armutsgefährdeter Menschen während der zurückliegenden Boomjahre auch im Westerwald nicht gesunken, sondern gestiegen sei! Dafür erlebten die „Reiseteilnehmer“ an dem Tag viele Beispiele. Alle stimmten darin überein, Armut als Preis für den steigenden Wohlstand der Besserverdienenden nicht einfach hinnehmen zu wollen. Das Forum Soziale Gerechtigkeit will das auch nicht und will die gesammelten ‚Erfahrungen in die anstehende Fortschreibung eines Armutsberichtes für den Westerwaldkreis einbringen. Weitere Infos und Anmerkungen zum Thema Armut gerne bei Forumssprecher Uli Schmidt unter uli@kleinkunst-mons-tabor.de. (PM)



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