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Nachricht vom 28.09.2010
Region
“Das birgt noch viel politischen Sprengstoff”
Region. Die Bundesregierung hat sich mit ihrer Entscheidung für eine Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken über die Bedenken von Opposition und Verbandsvertretern sowie über den Protest aus der Bevölkerung hinweggesetzt. Der “ww-kurier” sprach mit Egbert Bialk, Sprecher und Koordinator der Protestbewegung “AntiAtomNetz Koblenz/Nördliches Rheinland-Pfalz”, über die neu erstarkte Anti-Atom-Bewegung und deren Reaktion auf diese Entscheidung.
Egbert Bialk, Sprecher und Koordinator des AntiAtomNetzes Koblenz/Nördliches Rheinland-Pfalz.ww-kurier: Die schwarz-gelbe Regierung in Berlin hat die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke gegen alle Proteste durchgesetzt. Waren die Montagsspaziergänge umsonst?

Bialk: Nein, sie fangen ja erst an. Dieser "Demokratie-von-unten-Bazillus" breitet sich derzeit im ganzen Land aus. Schon 8 Städte in Rheinland-Pfalz gehen montags spazieren, weitere werden folgen, auch in anderen Bundesländern. Hinzu kommen viele weitere Aktionen in ganz Deutschland, Menschenketten, Mahnwachen, Telefon- und Mailaktionen. Die Protestwelle hat noch längst nicht den Höhepunkt erreicht. Die Bevölkerung ist mit breiter Mehrheit gegen die Atompolitik der Bundesregierung. Diese wird spätestens mittelfristig daran nicht vorbeikommen, auch wenn sie jetzt das neue Gesetz scheinbar unbeeindruckt durch den Bundestag peitscht. Sie kann sich ja kein neues Volk wählen.

ww-kurier: Wollen Sie mit diesen Protestaktionen weitermachen oder werden Sie in anderer Form auf die Beschlüsse von Schwarz-Gelb reagieren?

Bialk: Diese Montagsproteste sind sehr erfolgreich und kommen nicht nur von ein paar Protestgruppen, sondern mitten aus der Bevölkerung. Wir staunen, wer montags so alles mit uns auf die Straße geht. Ganze Familien oder über 80-Jährige fangen an, Flugblätter zu verteilen, Unternehmer in Anzug und Krawatte. Damit machen wir natürlich noch viele Wochen weiter. Stuttgart 21 zeigt doch, was möglich ist. Außerdem: Man erinnere sich nur an 1989 und die Montagsdemos in der damaligen DDR. Da haben die Menschen ein schier unbesiegbares Regime hinweggefegt. Wir wollen uns nicht damit vergleichen, aber Mut macht uns das schon. Natürlich arbeiten wir mit verschiedenen Verbänden und Oppositionsparteien zusammen und setzen jetzt darauf, dass dieser Nacht-und-Nebel-Deal mit den vier Atomkonzernen juristisch gekippt wird. Und die Abrechnung kommt spätestens bei der nächsten Wahl. Das neue Atomgesetz wird auf Dauer keinen Bestand haben.

ww-kurier: Haben Sie in der politischen Opposition genügend Bündnispartner, die Ihre Forderungen bei einem eventuellen Regierungswechsel auch tatsächlich umsetzen?

Bialk: Es gibt eine breite gesellschaftliche Mehrheit gegen die schwarz-gelbe Atompolitik. Fast zwei Drittel lehnen diese ab. Zahlreiche Verbände im Umweltbereich bis hin zu den Kirchen und Gewerkschaften sind auf unserer Seite und alle politischen Parteien außer CDU und FDP sind eindeutig gegen die Laufzeitverlängerung - aus ethisch-moralischen Gründen, aus Gründen der Sicherheit und zum Schutz des Lebens, aus Gründen des Klimaschutzes und der technologisch-wirtschaftlichen Weiterentwicklung und aus Gründen der Arbeitsplatzsicherung. Daran kann eine neue Regierung in bunteren Farben nicht vorbei. Nach den Erfahrungen der Vergangenheit bin ich sehr vorsichtig mit Parteipolitik. Aber: Bei unseren Protesten haben uns diese Parteipolitiker klar und eindeutig versprochen, die schwarz-gelben Energiegesetze wieder zu kippen. Diese Versprechen zu brechen, wäre angesichts des tief verankerten Protestes politischer Selbstmord.

ww-kurier: Lange Zeit war die Anti-Atomkraft-Bewegung fast völlig in der Versenkung verschwunden. Haben die Proteste der jüngeren Zeit die Bewegung gestärkt?

Bialk: Ins brave Koblenz kamen aus dem Stand 2000 Menschen im April, zu den Menschenketten und jetzt nach Berlin 100.000 und mehr, das ist doch eine klare Antwort. Die Anti-Atom-Bewegung war nie ganz tot, man denke nur an Gorleben. Aber jetzt ist sie nicht nur wieder quicklebendig, jetzt hat sie sich neu erfunden, sie kämpft ganz vielseitig und kreativ und gleichzeitig auch für machbare Alternativen, für die Energiewende und den Klimaschutz. Früher waren es eher Außenseitergruppen rund um die AKW-Bauplätze, oft kritisch beäugt von den "braven Bürgern". Die Tschernobyl-Katastrophe hat dann die Bevölkerung erschreckt und neue Atomkraftwerke bei uns verhindert, aber jetzt sind wir viel weiter: Wir wollen alle AKW, so schnell es geht, abschalten — weil sie überflüssig und gefährlich sind, vom Uranabbau bis zur ungelösten Entsorgung. Und mit uns die Mehrheit der Bevölkerung — bis weit in die CDU- und FDP-Anhängerschaft hinein. Es wird sicher auch eine neue Qualität des Widerstandes rund um Gorleben geben. Hier werden nicht nur ein paar Radikale Gleise blockieren. In Dannenberg werden Anfang November Zehntausende erwartet. Bürger wie du und ich.

ww-kurier: Steckt nicht noch mehr hinter den Protesten als allein die Ablehnung der Atompolitik?

Bialk: Na klar, man muss sich doch diese Politik der Chaostruppe um Merkel und Westerwelle doch mal anschauen, auch in der Finanz-, Gesundheits- und Sozialpolitik. Man denke nur an die Steuergeschenke für Hoteliers oder die Profite für die vier Energiegroßkonzerne. Eine so dilletantische Regierungspolitik gab es noch nie in Deutschland. Und nun die unglaubliche Dreistigkeit, mit der die Atomverlängerung und das Einknicken vor Lobbyinteressen als "Revolution" dargestellt werden. Hier soll die Bevölkerung für dumm verkauft werden. Zu Recht sind CDU und FDP in den Umfragen ins Bodenlose abgestürzt. Leider kann man sie aber zwischendrin seitens des Volkes nicht abwählen. Manche ziehen sich politikverdrossen zurück, aber immer mehr zeigen ihren Protest auch offen, besonders auch bei abgehobenen Großprojekten vor Ort wie in Stuttgart. Und der Gipfel ist ja jetzt die erbärmliche Erhöhung von 5 Euro für Bedürftige. Das birgt noch viel sozialen und politischen Sprengstoff. Da kommt noch viel mehr auf diese Regierung zu.

ww-kurier: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Bialk.

(Die Fragen stellte Herbert A. Eberth)
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