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Nachricht vom 01.01.2022
Kultur
Buchtipp: „Wer später stirbt, ist länger alt“ von Heidi Fischer
19 berührende Kurzgeschichten oder „Kurze Geschichten von langen Leben“, denen jeweils ein sinniges Zitat vorangestellt ist, ergeben eine Collage altersbedingter Zustände, mal wunderlich oder verschroben, mal liebeshungrig oder erotisch, mal böse oder raffiniert, immer als Ergebnis eines intensiv gelebten Lebens. Lieben, träumen und hoffen geht bis ins hohe Alter.
BuchtitelDierdorf/Karlsruhe. Schon die Namen der Protagonisten kennzeichnen sie als Mitglieder der Altersgruppe „70 plus“. Reinholds Kinder machen sich Gedanken um seine Gesundheit. „Wie es in seinem Inneren aussieht, fragt lieber keiner. Wahrscheinlich haben sie Angst davor, was sie hören würden.“ Der Witwer will sich seiner Marga noch einmal nahe fühlen, nicht nur gedanklich, sondern auch körperlich genießen.

Die grundverschiedenen Freundinnen Else und Gerda erfüllen sich mit sehr viel Energie und sehr wenig Vernunft einen Kindheitstraum und sind einen Tag lang glücklich dabei.

Typische Vertreterin für Menschen aus der Landwirtschaft ist Anna, die erst im Alter Zeit und Muse zum Lesen hat. „Lesen war für sie immer das Höchste, aber für alle anderen in der Familie nur vertane Zeit.“ Gedichte liebt sie besonders. Nun, mit 82 Jahren, da sie von den Kindern in einem Pflegeheim untergebracht wurde, kann sie aus der Bücherei so viele Bände ausleihen und auslesen wie sie möchte. Und Entdeckungen machen.

Viele alte Menschen sind dement. Die Autorin beschreibt den Zustand bei Herbert mit viel Empathie: „Es war einer von diesen unverständlichen Tagen, in denen ihm die Gegenwart mit der Vergangenheit durcheinanderwirbelte wie ein Blatt im Herbststurm.“ Eine sowohl gedankliche als auch analoge Reise in die Vergangenheit unternimmt eine alte Dame, die trotz des gespeicherten Wissens das Leben und die „arglistige Laune des Schicksals“ nicht versteht. „Vergessen war manchmal auch eine Form von Glücklichsein. Glück und Unglück waren doch oftmals nur eine Frage der Vergleichsmöglichkeiten.“ Wie bei Erna, die ihren 50. Hochzeitstag mit fünfzig Luftballonherzen feiert.

Um ihren Alltag zu strukturieren, entwickeln manche Senioren spezielle Interessen. Frühlingsgrün kann der alte Wagner wundervoll differenzieren, katalogisieren und zählen. Selbstgespräche werden ihm altersgemäß zugestanden, die junge Pflegerin küssen nicht. Nacktbaden ist Jochens Vater nicht erlaubt, er landet deswegen nackt auf der Polizeiwache.

Manche Altersweisen können auch als Vorbild dienen: Die Gespräche bei den Treffen der ehemaligen „Viererbande“ Erika, Sophia, Maria und Elisabeth, die sich zu den „Plaudertaschen“ entwickelten, thematisieren meist Vergangenes, das alle zur Genüge kennen. Maria, die siebenundachtzigjährige „Sünderin“ des Quartetts schaut immer noch gern Männern auf den Hintern und amüsiert sich über die pikierten Freundinnen: „Mädels, lasst euch doch nicht das Leben vermiesen, nur weil wir alt sind. Freut euch lieber, dass man in unserem Alter als Frau praktisch unsichtbar geworden ist. Wir müssen nicht mehr gut aussehen, aber wir können schöne Aussichten genießen!“ Oder wie Jochens Vater scharfsinnig feststellt: „Alle Menschen haben Lust, einmal etwas total Absurdes zu tun. Den meisten fehlt nur der Mut.“

Das Zitat von August Everding „Phantasie muss grenzenlos sein dürfen, denn gezähmt wäre sie keine Phantasie“, ist der Geschichte „Kaffeegenuss“ vorangestellt, in der eine sehr alte Dame mit ihren exklusiven Lebenserinnerungen die Gäste eines Cafés in Unterhaltungen verwickelt.

Scharfsinnig und lebenserfahren analysiert Rosa die Menschen auf Mallorcas „Rund-um-die Uhr-Jahrmarkt“: „Alle Urlauber kamen ihr so vor, als wären sie in diesem heißen August auf der Suche nach Liebe. Sie hatte noch nie so viele aufgetakelte und überschminkte Frauen gesehen wie in El Arenal, dem dicht besiedelten Strand von Mallorca. Und nirgendwo gab es so viele dickbäuchige, sonnenverbrannte Männer, die hinter ihnen hergockelten, als wäre es ihr letzter Sommer.“ Die Mallorca-Träume zerplatzen an schlechter Laune.

Mallorca ist auch der Schauplatz, an dem „Der Graue“ auftritt. Er ist ein staubgrauer, streunender Kater. „Rotz lief aus seinen schmutzigen Nasenlöchern. Doch das zählte nicht mehr, als Lisette die verklebten, halb geschlossenen, hilflosen Augen sah, die sie sofort an ihren verstorbenen Ehemann Wolfram erinnerten.“ Wegen dieser Ähnlichkeit mit ihrem Mann überträgt Lisette all ihre Liebe auf das Tier.

Es ist ebenfalls seelenwärmend, immer dann Geburtstag zu feiern, wenn einem danach ist. Am schönsten mit einem verständnisvollen Kavalier. Denn: „Alt bist du erst, wenn du beschlossen hast, alt zu sein“, schreibt Heidi Fischer als Vorwort.

Das augenzwinkernd-unterhaltsame und tiefsinnige Taschenbuch „Wer später stirbt, ist länger alt“ ist im Kleinen Buchverlag erschienen, ISBN 978-3-7650-9106-3; auch als E-Book, ISBN 978-3-7650-2127-5. (htv)
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