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Nachricht vom 14.09.2021
Region
Rücksichtslos durch Rettungsgasse gebrettert
Als Grimms Märchenstunde hätte man auch die Hauptverhandlung vor Dr. Orlik Frank, dem Einzelrichter beim Amtsgericht in Montabaur, bezeichnen können. Der Angeklagte fuhr mit hoher Geschwindigkeit durch eine eng gebildete Rettungsgasse und ramponierte dabei mehrere Fahrzeuge. Er selbst begründete die Verkehrsgefährdung damit, er wollte lediglich helfen.
Amtsgericht Montabaur (Foto: Wolfgang Rabsch)Montabaur. Einem 30-jährigen Angeklagten aus dem Landkreis Gießen wurde seitens der Staatsanwaltschaft (StA) Koblenz vorgeworfen, auf der A3, in Höhe der Raststätte Heiligenroth, rücksichtlos nach einem Unfall durch eine gebildete Rettungsgasse gefahren zu sein, dabei mehrere Fahrzeuge touchiert zu haben, und - ohne sich um die Unfälle zu kümmern - weitergerast zu sein. Die Tatbestände der Gefährdung des Straßenverkehrs, sowie Verkehrsunfallflucht wurden angenommen.

Der Angeklagte ist 30 Jahre alt, geschieden, hat ein Kind aus erster Ehe und ein Zweites mit seiner jetzigen Verlobten. Zum Zeitpunkt der Tat hat die Verlobte und das Baby mit bei ihm im Auto gesessen. Er verdient als Industriemechaniker rund 1.400 Euro netto. Der Bundeszentralregisterauszug (BZR) enthielt sieben Eintragungen, die meisten wegen Tankbetrugs, deshalb steht er beim Amtsgericht Wetzlar unter laufender Bewährung.

Der Anwalt des Angeklagten trug vor, dass der Angeklagte vor fünf Jahren ein Schlüsselerlebnis gehabt habe, als er ein brennendes Auto sah, in dem sich noch Personen befanden. Demnach hielt er damals als Einziger an, während alle anderen weiterfuhren. Die Menschen konnten sich wohl selbst aus dem brennenden Fahrzeug retten, doch seitdem habe der Angeklagte immer das Gefühl, dass er anderen helfen müsse. Es sei ein sogenanntes Helfersyndrom.

Die Version des Angeklagten:
Ungläubiges Staunen machte sich im Gerichtssaal breit, als der Anwalt schilderte, wie sich der Vorfall zugetragen haben soll. Der Angeklagte sei auf der A3 in Richtung Köln gefahren, als er in Höhe der Raststätte Heiligenroth auf der Gegenfahrbahn einen Unfall beobachtete, bei dem sich zwei Autos überschlagen hätten. Sofort sei sein nobler Instinkt geweckt worden: „Du musst versuchen zu helfen und zu retten.“

Deshalb habe er die nächste Abfahrt genommen und sei flott in Richtung Frankfurt umgedreht. Vor der Raststätte hatte sich der Verkehr inzwischen aufgestaut, auch eine Rettungsgasse ist gebildet worden. Durch diese sei der Angeklagte gefahren, aber nur, um bis zur Unfallstelle zu gelangen, um dort zu helfen. An der Unfallstelle wären bereits mehrere Autofahrer zu Hilfe geeilt, die hätten ihm gesagt, er könne weiterfahren, da sie alles im Griff hätten und Polizei und DRK bereits alarmiert wären. Trotzdem hätte er noch einige Minuten gewartet, bevor er losfuhr, Polizei und DRK wären bis dahin noch nicht vor Ort gewesen. Von den Unfällen mit anderen Autos will der Angeklagte nichts bemerkt haben.

Die Zeugen:
Tja, leider hatten die Zeugen eine ganz andere Sicht auf die Dinge. Ein Zeuge aus dem Bergischen war mit seiner Frau unterwegs, als sie in den Stau fuhren. „Ich sah schon von Weitem das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge, ich fuhr ganz rechts ran, um eine Rettungsgasse zu bilden. Plötzlich hörte ich es hinter mir krachen. Zwei Autos hinter mir war ein Auto durch die Rettungsgasse gefahren und hat dort ein Auto beschädigt. Ohne anzuhalten bretterte der Fahrer weiter und knallte auch gegen meinen hinteren Kotflügel. Wie ein Wahnsinniger raste er weiter, hielt dabei krampfhaft das Lenkrad fest, das konnte ich sehen, weil ich kurz in den Wagen schaute. Mit vollem Karacho fuhr der junge Mann weiter, bis ich ihn nicht mehr sah.“ Der Zeuge wunderte sich, dass der Angeklagte helfen wollte: „Warum sollte er helfen, wenn doch schon die Polizei vor Ort war?“ Die Ehefrau des Zeugen bestätigte die Angaben ihres Mannes.

Eine weitere Zeugin berichtete von ihrer Todesangst, als es hinter ihr plötzlich knallte. „Ich hatte ja mein kleines Baby mit an Bord.“ Weitere Zeugen beschrieben die Fahrweise des Angeklagten als grob rücksichtslos, obwohl er mehrere Autos beschädigte. Er wäre auch mit hoher Geschwindigkeit angeschossen gekommen.

Spannend wurde die Vernehmung der Verlobten des Angeklagten, die sich vielleicht besser auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen hätte, denn sie stützte voll die Story ihres Verlobten, wonach dieser gewendet habe, um zu helfen. Die lauten Anstöße bei den Unfällen habe sie nicht gehört, da sie sich mit ihrem kleinen Kind beschäftigt habe. Auf Nachfrage der StA meinte sie: „Ja, es können kleine Stupser gewesen sein. An der Unfallstelle war alles klar, deshalb konnten wir weiterfahren. Die Polizei war noch nicht dort.“ Die Zeugin wurde eindringlich belehrt, die Wahrheit zu sagen, weil sie im Falle der Unwahrheit eine Anzeige wegen uneidlicher Falschaussage erwarten könne. Sie blieb bei ihrer Aussage, dass sie gewendet hätten. Jedoch betonte sie: „Ich war aber in Panik, habe wegen meines Babys nicht auf alles geachtet.“

Die Anträge:
Die Beweisaufnahme wurde geschlossen, der Vertreter der Bewährungshilfe erklärte noch, dass sich der Angeklagte mit 38.000 Euro Schulden in der Verbraucherinsolvenz befände, er habe gelegentlich depressive Phasen. Dennoch stellte die Bewährungshilfe eine positive Sozialprognose. Der Vertreter der StA beantragte eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten zur Bewährung auf vier Jahre, Schadenswiedergutmachung und Entzug der Fahrerlaubnis von 24 Monaten wegen Straßenverkehrsgefährdung und Verkehrsunfallflucht. Der Rechtsanwalt beantragte ein Bußgeld wegen der Straßenverkehrsgefährdung, und wegen der Unfallflucht eine Freiheitsstrafe von fünf Monaten zur Bewährung, Sperrfrist zur Erteilung der Fahrerlaubnis von zwölf Monaten. Der Angeklagte schloss sich seinem Verteidiger an.

Das Urteil:
Richter Dr. Frank verkündete sodann das Urteil: Freiheitsstrafe von einem Jahr zur Bewährung auf drei Jahre. Zwölf Monate Sperrfrist zur Erteilung der Fahrerlaubnis und 100 Sozialstunden. Zur Begründung führte Dr. Frank an, dass er dem Angeklagten sein zwanghaftes Bestreben zu helfen, nicht abnehme. Weiter: „Sie haben jetzt acht Eintragungen im BZR, das sind neun zu viel. Denken Sie an Ihre Familie. Nicht der Richter und die StA sind die Bösen, nein, Sie ganz alleine sind schuld.“ Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
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